In dieser Geschichte geht es um Alexandra. Sie ist stumm.
Mehr gibt es nichts zu sagen. Denn ich habe weder etwas geplant, noch habe ich vor, diese Geschichte irgendwie ernsthaft zu verfolgen. Ich wollte einfach über ein stummes Mädchen schreiben.
Aber ich hoffe doch, es gefällt euch!
JENI)
iDD

Sonntag, 15. September 2013

Kapitel 1

Ich war nicht immer stumm gewesen. Meine Stimme hatte ich erst mit acht Jahren verloren. Das war schon sechs Jahre her. Ab diesen Zeitpunkt war das Schreiben die einzige Möglichkeit mit jemanden zu "reden". Günstig war auch, dass ich eine schöne Handschrift hatte und ziemlich schnell schreiben konnte. Allerdings nützte mir all das nicht, wenn ich nichts zu sagen hatte. Schon als ich meine Stimme noch hatte, war ich sehr schweigsam gewesen. Deshalb hatten meine Eltern  erst spät bemerkt, dass ich nicht nichts sagen wollte, sondern einfach nichts sagen konnte. Meine Eltern waren nicht oft bei mir. Beide waren beschäftigte Leute, die nicht wenig verdienten. Sie waren sehr oft unterwegs und ließen mich mit der Haushälterin alleine in dem riesigen Haus, das ich Heimat nannte. Mir machte es nicht viel aus. Wie sollte man auch etwas vermissen, dass man gar nicht kannte? Außerdem war die Haushälterin eine alte Frau und schlief schon mal öfters in dem Wohnzimmersessel ein. Schon seit ich denken konnte, nannte ich sie nur Großmutter, aber nur, wenn meine Eltern nicht da waren. Und wenn Großmutter dann eingeschlafen war, schlich ich mich hinaus.
Trotz meiner Stummheit hatte ich Freunde. Auch wenn sie alle Jungen waren. Das hatte einen praktischen Grund. Wenn Mädchen sich trafen, dann schminkten sie sich und redeten über Jungs. Jungen dagegen redeten nicht viel, sondern spielten Fußball oder sonst etwas, wo nicht so viel geredet wurde. Jedenfalls hatte ich acht Freunde. Man sagt ja immer, Mädchen liefen in Horden herum, doch für meine Freunde galt das auch. Wir spielten so ziemlich jeden Tag mit einem Ball. Dazu trafen wir uns am Kaufhaus und gingen zusammen in den nahen Stadtwald. So auch heute. Nach dem Mittagessen zog ich mir meine verdreckte Jeans von gestern an und suchte nach einem alten Hemd von meinem Vater. Mein Vater war einer der größten Menschen, die ich je gesehen hatte, dass ich mich wunderte, weshalb er kein Basketballprofi war. Allerdings hatte ich seine Größe geerbt, weshalb das Hemd nicht allzu riesig war. Und wegen meiner Größe stritten sich meine Freunde auch darum in welche Mannschaft ich sollte, wenn wir Basketball spielen. Das wir eine ungerade Zahl waren, brachte auch nicht viel zur Schlichtung bei. Deshalb war ich Auswechselspieler für beide Mannschaften.
Als ich das teuere Hemd in den Hosenbund steckte und an dem großen Spiegel im Flur vorbei aus dem Haus lief, sah ich völlig anders aus. Auch wenn ich mit Jungen zusammen war, legte ich Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Allerdings nur, wenn keine Gefahr bestand, dass ich schmutzig werden könnte. Und heute würde ich garantiert schmutzig werden. Wir wollten Fußball spielen. Und das bedeutete, dass voller Körpereinsatz gefordert war.
Um zum Kaufhof zu gelangen musste ich erst einmal aus meinem Viertel hinaus, das reiche Viertel. Auf dem halben Weg begegnete ich immer Markus. Auch seine Eltern waren reich. Er war so groß wie ich und hatte, ebenfalls wie ich, dunkles, kurzes Haar. Anscheinend waren wir um einige Ecken verwandt, denn wir sahen uns auch sonst ziemlich ähnlich und hatten uns schon einmal bei einem Familientreffen gesehen. Heute wartete er aber nicht an der üblichen Stelle auf mich. Ich war gerade mal ein paar Meter gegangen, als er neben mir auftauchte. Erschrocken zuckte ich zusammen und schaute ihn böse an. Ich hasste es, erschreckt zu werden! "So reizbar heute, Madame? Ist dir etwas über die Leber gelaufen?", fragte Markus grinsend und stieß mir den Ellenbogen in die Seite. Ich schüttelte den Kopf. "Dann weiß ich nicht, warum ich diesem Blick verdient habe!", beklagte er sich. Als Antwort verdrehte ich nur die Augen und ging weiter. Markus begann von seinem Ausflug in die Alpen zu erzählen, von dem er gestern zurückgekommen war. Die Sommerferien waren übermorgen vorbei und ich war die einzige gewesen, die nirgendwo gewesen war. "Und was hast du in der Woche gemacht?", fragte Markus, als wir das Kaufhaus schon fast erreicht hatten. Ich sah ihn nur schweigend an. "Deine Eltern waren die ganze Zeit weg?! Die ganzen Sommerferien lang?!" Markus zog die linke Augenbraue hoch. Das konnte er wie kein anderer. "Scheiß Eltern", drückte er meine Gefühle aus. Deshalb mochte ich meine Freunde auch so, obwohl sie manchmal grob wurden. Sie verstanden mich. Aus meinem Schweigen interpretierten sie heraus, was ich sagen würde. Es war fast so, als würden sie meine Gedanken lesen können. Markus konnte das ein wenig besser als die anderen, aber das lag wohl daran, dass wir uns schon länger kannten. Er verstand mich sogar, wenn wir telefonierten. Ein paar von den anderen denken, wir würden es viel zu kompliziert machen. Eine SMS zu schreiben, auch wenn sie ellenlang war, sei einfacher, als zu telefonieren. Und würde weniger kosten. Darum telefonierte ich auch nur mit Markus.
Wir gingen um eine Straßenecke und trafen auf Philipp und Justin. Sie waren Zwillinge und sahen sich zum verwechseln ähnlich. Wenn da nicht die Haare gewesen wären. Philipp hatte dunkelblondes Haar, während Justin sie sich rot gefärbt hatte. Das war vorletzten Sommer gewesen. Wir mussten immer noch lachen, wenn wir an das Gesicht seiner Mutter dachten. "Hey Leute!", begrüßte Justin uns und kickte den Fußball, den er vor sich her schob, hoch. Markus schnappte sich den Ball. "Hallo Jus! Immer noch sauer?", wollte er stichelnd wissen. "Nee! Ich hab deinen Rekord gebrochen", antwortete Justin grinsend. "Und?", murrte Markus verstimmt. "55!" Markus lachte abschätzig. "Nur? Das sind gerade mal zwei Schüsse mehr!" Und so ging es den Rest des Weges weiter. Philipp kam zu mir. "Und? Freust du dich schon auf die Schule?", frage er gespielt enthusiastisch. Ich lachte tonlos und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Dumme Frage, ich weiß", entgegnete er und rieb sich die Stirn. "In drei Tagen bekommen wir wieder Hausaufgaben auf."
Als wir schließlich bei den Bänken vor dem Kaufhaus ankamen, waren alle anderen schon da. Kevin, ein Junge mit blonden Haaren, war ein Jahr älter als wir und ging in die Klasse über uns. Darum nannte er sich scherzhaft unser Rudelführer und bisher hatte ihm auch niemand widersprochen. Jonathan hatte langes schwarzes Haar und kleidete sich auch schwarz. Die Lehrer verwechselten uns immer, auch wenn alle nicht verstanden wieso. Ich hatte auch dunkle Haare und die Länge stimmte auch überein, aber ich kleidete mich nicht schwarz! Leonard war der Pferdenarr in unserer Gruppe. Vielleicht hat jemand mal die These aufgestellt, dass es in jeder Gruppe, die drei Mitglieder übersteigt, mindestens einen Pferdenarren gibt, egal ob Jungen oder Mädchen. Wenn niemand diese These aufgestellt haben sollte, hatte ich es hiermit getan. Mit seiner strubbeligen Kurzhaarfrisur sah er selbst ein wenig aus wie ein Pferd. Julius war der unsportlichste von allen. Mit seinem strähnigen braunen Haaren und der Brille, sah er eher wie ein Stubenhocker aus, was er aber durchaus nicht war. Schließlich hing er mit uns herum. Daniel war der Durchschnittstyp in unserer Gruppe. Er fiel nicht auf und hielt sich im Hintergrund. Allerdings war er unser bester Torwart, weshalb er auch bei uns blieb. Ich hatte ihn noch nie in einer Hose gesehen, die keine Grasflecken am Knie hatte.
Wir hielten uns nicht lange mit Begrüßungen auf, sondern gingen gleich weiter, aus der Stadt raus. Einen viertelstündigen Fußmarsch entfernt war ein kleiner Stadtwald. Wald war vielleicht etwas zu viel gesagt, aber wir nannten die Baumgruppe unseren Wald. In der Mitte, umrahmt von den Bäumen, war eine Lichtung. Es war einfach eine Wiese, ungefähr halb so groß wie ein richtigen Fußballfeld. Doch das, was diesen Platz perfekt zum Fußballspielen machte, waren die zwei Bäume, die etwas aus der Reihe tanzten und ein perfektes Tor bildeten. An der gegenüberliegenden Seite hatten wir zwei Äste in den Boden gesteckt. Natürlich mussten wir um die Platzverteilung losen.
Heute waren es Kevin, Jonathan, Julius, Daniel und ich, die das gute Los zogen und die Hälfte mit den Baumstämmen zogen. Wie hatten uns in die gewohnten Mannschaften aufgeteilt, wobei meine Mannschaft einen Spieler mehr hatte. Allerdings glich sich das such aus: Julius war der schlechteste von uns allen und ich war ein Mädchen. Wir hielten uns nicht lange mit Reden auf, sondern nahmen unsere Positionen ein. Daniel und Philipp waren im Tor, Kevin, Jonathan, Markus und Justin waren der Angriff. Julius, Leonard und ich waren die Mittelfeldspieler. Markus hatte gerade den Ball, also spielte er ab. Damit begann das Spiel. Sofort gingen die Rufe "Zu mir!" und "Ich bin frei!" los, während Justin  an Jonathan vorbei dribbelte, auf das Tor zu. Allerdings waren wir kein so mieses Team, wie es sich anhörte. Kevin versuchte sein Glück von links, sodass Justin sich gezwungen fühlte, den Ball abzugeben. Sein Pass war auf Markus gerichtet, aber Julius hatte einen seiner guten Momente und stand genau am richtigen Ort, um den Ball abzufangen.